"Das süße Jenseits" - unser geschätzter Dr. Move ist ja ein bekennender Egoyan-Fan, weitere Werke seines Filmuniversums, welche ich bedenkenlos empfehle, sind u.a. "The Adjuster", "Chloe" uvm.
Text enthält Spoiler
„We are all citizens of a different
town now, … strange and new“, kalt wie ein Wintermond, die Angst
sie uns innewohnt
Vor 20 Jahren, so die sich bewahrheitet
habende Legende, sollte es geschehen: es entstand „Das süße
Jenseits“, hierbei handelt es sich nun um meine persönliche
jubiläumsbedingte Ehrerbietung, den Beitrag zu einem
formvollendeten, zwischen 12/95 und dem 29.11.97 spielenden
Meisterwerk, dessen Qualität nicht in Worte zu fassen ist, ein
makelloserer Film ist mir noch nie zuvor begegnet.
Ich verwende als Schreibplattform die
Veröffentlichung des Buches, da alle einzelnen Filmbereiche
ebendiesen Werkes bereits von und mit Beiträgen meinerseits belegt
sind, ich bitte um Verständnis...
Beginnend in magisch-mysteriöser
Dunkelheit, ähnlich geheimnisvoll wie im Jahre 1994 in Exotica, hier
nun jedoch leichte Winde im Hintergrunde zu vernehmen, die Flöte sie
singt ihr fabelhaftes, in den hübsch gestalteten Rahmen einer
Märchenerzählung passendes Volkslied innerer Idylle. In trauter
Dreisamkeit nun die junge Familie des Mitchell Stephens zu erblicken,
die Ehegattin und das im Gesichtsausdrucke ein wenig an Altmeister
Roman Polanski erinnernde Töchterlein, dessen konzentrierter Blick
in nicht allzu ferner, bereits spürbarer Bälde noch eine tragende
Rolle wird spielen dürfen. Die Tochter nun, wir schreiben wieder ein
gegenwärtiges Jahr, bei den dem Rauschgifte nicht abgeneigt seienden
Leuten stehend, in aktueller zivilisatorisch besetzter Welt, oh welch
Kontrastbilde zum betagten Vater im Wagen, zwar ebenfalls von engem
Raume umgeben, sich jedoch in bedeutend einsameren Regionen
aufhaltend, die disfunktionalen Kommunikationskomplikationen in der
von komplexen Zusammenhängen und erschreckenden Rissen geprägten
Beziehung zwischen ungesunder Tochter und besorgtem anwaltlichen
Vater, erschüttern uns zutiefst. Sarah Polley in dieser ihrer
innigsten Rolle der Nicole nun eine Ballade erklingen lassend, der
Vater, wie er zu Beginn eher als eine Art „Weggefährte“/“Freund“
portraitiert wird, wohnt dieser eines öffentlichen Anlasses wegen
erfolgenden Probe für eine Aufführung, ein Konzert, scheinbar
verständnisvoll, im Kerne jedoch von keinerlei Sympathiefaktoren
geprägt, bei, bewundert in ihr die vielleicht falschen Aspekte,
anstatt sie wirklich ihrer Darbietungen wegen zu lieben, begrüßt er
lediglich die Unschuld in ihr. Im Hintergrunde wir die Bilder ihres
Antlitz' sehend, sie in pittoresk-malerischem Lichte engelsgleicher
Wunder erstrahlen lassend, zudem untermalt von einem sich in dieser
Form wiederholenden, geradezu hypnotischen Score von Mychael Danna.
So oft nun unterstützt der Klang den alsbald zu erfolgen drohenden
Zeitwechsel, wie er uns jederzeit packen, betören kann, im Positiven
wie im Negativen zu überwältigen vermag.
Das Minutenbild der Momentaufnahmen
beizeiten so kristallklar im seelischen Zerfalle und Ertragenmüssen
von Qualen, dabei niemals geradlinig, sondern stets eine
bemerkenswerte Mixtur dessen, was einstmals geschah, sich gegenwärtig
zuträgt und künftighin Gestalt annehmen wird.
Das Riesenrad des Rummelplatzes, das
gemeinsame Zu-sich-Nehmen einer Erfrischung aus leck'rem Eis, die aus
den aus dem Bus steigenden Kindern bestehende, auf Neudeutsch,
Community, jawohl, noch scheint alles scheinbar unbeschwerter
Schwerelosigkeit innerer Wunder zu unterliegen, zusammen begrüßen
Nicole und Sam die noch existierende, in Bälde in Welten gespaltene
Gruppe. Das Hotel der Walkers ist es, welches von Stephens zuerst
aufgesucht wird, ehe die Besuche eine kaum mehr zu überblickende
Zahl ihr Eigen nennen werden. Der Anwalt dringt mit überzeugenden
Vorträgen in die Psyche der schwer traumatisierten Eltern ein, stets
einen Notizblock bei sich habend, um pflichtgetreu alles
festzuhalten. Fast einem Prediger gleichend, widmet er sich geradezu
fanatisch seiner ihm von ihm selbst zugedachten Aufgabe, um letzten
Endes doch nur von dem gewaltigen Umfange der Unannehmlichkeiten
seines eigenen Schicksals zu fliehen. Mr. Walker versucht über jeden
seiner Mitmenschen ein negatives Urteil ins Leben zu rufen, einzig'
bei den künstlerisch veranlagten Otto's, dem sympathischen Paar
wunderschönen Hauses, wie wir es später werden erblicken dürfen,
scheint ihm die Herbeiführung von Kritik nicht so recht zu gelingen.
Lediglich ihr „They are smart, ...went to college“ scheint ihn zu
stören, als seien nur Akademiker des Wissens Träger, so ist dem
nämlich mitnichten. Stephens' Telefonat mit der den Drogen nicht
Adieu sagenden Tochter, wird, es kommt noch zu mehreren weiteren
Gesprächen, während der Walker-Besprechung seine Entstehung finden
lassen, zur selben Zeit diskutiert das Paar und wir erleben, zwei
Zweier-Debatten folgend, unheimlich viel Gesprächsdynamik auf
einmal, geschickt eingefangen von Egoyan, ...auch noch tatsächlich
beiden Unterhaltungen folgen zu können. Alison erweist sich, hier
schreiben wir nun wieder das eigentliche Filmjahr, nämlich 1997, als
eine begnadete Zuhörerin, geradezu der Rolle einer Art Therapeutin
gerecht werdend, alles strömt nun regelrecht aus seiner Seele
heraus, tritt sich angestaut habend nachträglich hervor, nur und
ausschließlich hier, erleben wir ihn ganz und gar als jenen
Menschen, dessen Wesen auch jenseits des anwaltlichen Daseins lebt,
atmet, spürt und fühlt, gar empfindet. Die anwaltliche Rolle und
Aufgabe nun also szenenweise abgelegt und beiseite geschafft, jene
Berufung, welcher er sich seiner geschickten Rhetorik wegen einstmals
verschrieben hat. Nun besuchen wir die Ottos, jene im positiven Sinne
die Andersartigkeit zelebrierenden Vertreter fremder Kulturen, zwei
Künstlerseelen im Einklange, passenderweise nun in einer Welt Platz
genommen habend, in welcher die Zeit stillzustehen scheint,
Schneestürme in unserem Herzen ein Wintermärchen erschaffend.
Stephens innerlich so mitfühlend, beruflich dagegen gezwungenermaßen
kühl, im Übrigen ließe sein Herz wohl noch keine Selbstöffnung
innerer Offenbarungen zu. Gabrielle Rose (Dolores) zuvor in weniger
„biederen“ Rollen innerhalb der Egoyan-Filme zu sehen gewesen,
meistert sie nun auch diese neue Aufgabe mit Bravour, u.a. aber auch
David Hamblen, wie er ebenfalls zum Egoyan-erprobten Stammpersonal
gehört, hier nun seine anspruchsvollste Rolle bekleidet, wie sie
auch im Buche so bewegend von Dolores beschrieben worden ist.
Überhaupt hat der Autor besagten Buches die Chance ergriffen und die
Gelegenheit wahrgenommen, im Filme einen kleinen Gastauftritt („her
mind is kind“) zu genießen. In Dolores'/Gabrielle's Haus, erleben
wir nun Bilder von Kindern, auch in diesem Zusammenhang erweist sich
das Werk als ein ähnlich tragisches Trauerspiel wie „Exotica“,
die Formel perfektionierend, prägend den Kunstfilm der 90er Jahre.
Aus einem Helicopter erblicken wir nun den unvergleichlichen Zauber
der Rocky Mountains, Straßen so schneebedeckt in ihrer von
Naturphänomenen überzogenen Pracht zu sehen. Stephens, nun befinden
wir uns wieder im von Trauer durchtränkten Gespräch im Flugzeuge,
kann die Kliniken seiner Tochter kaum mehr zählen, der dunkle Himmel
er entfaltet sich über unseren Herzen, die Kamera gleitet durch ihn
hindurch...
Die Nebelwelten sich aufbauend, die
Kamera fährt durch deren Dunst des Mysteriums, jedes einzelne Haus
scheint meilenweit vom nächsten „Nachbarn“ entfernt zu sein. Die
Otto's alsbald ebenfalls leicht manipulierbar erscheinend trotz
künstlerisch anmutender Individualitätsoffenbarung
, lediglich Nicole und Billy (Bruce
Greenwood, fast so brillant wie in Exotica) lassen sich nicht in die
ihnen widerstrebenden Prozesse und Richtungen lenken. Das hölzern
prachtvolle Haus der Ottos gar mit Instrumenten und wundersamen
Gegenständen, wie sie dezent im Hintergrunde liegen, äußerst
hübsch ausgestattet. „You are angry“, sagt Stephens mehreren
seiner Zuhörer, doch schenket er sich in diesem Moment kaum selbst
Gehör, denn der Zorn muss auch in seiner Wenigkeit leben...
„Angry“ ist hier kein Ausdruck,
Trauer träfe vielmehr das eigentliche Phänomen der gebrochenen
Zauber und Lebensentwürfe. „There is no such thing as the simple
truth … there is no such thing as an accident“ -
Überzeugungskunst so klar im Worte, die Gemeinde zwar spaltend, doch
zu den Ottos kriecht er geradezu vor, fleht selbige regelrecht an,
sie mögen und möchten ihm doch bitte das ihm entgegenzubringende
Vertrauen schenken. Er konfrontiert sein Gegenüber zumeist mit
traumatischen, durch Worte erzeugten Bildern, oft sieht er die Leute
dabei nicht direkt an, spräche gar weiter, wenn keiner mehr als
Zuhörer fungiert, verliert sich gänzlich in der Ich-Perspektive
eines gebrochenen Mannes, dessen Nachwuchs im Extremfalle vor ihm
wird sterben müssen, man bedenke schließlich, dass die in Bälde
bei ihr diagnostiziert worden seiende Krankheit Mitte der 90er Jahre
als Todesgarant wahrgenommen worden ist. Bizarre Komik offenbart sich
dann, wenn er in kindlicher Freud' und Aufregung zu seinem Wagen
rennt und den für den Fall vonnöten seienden Vertrag holt, Ian Holm
rast mit fast 70 Jahren durch die Eiswüste, beeindruckt uns auch
sonst mit überragender Schauspielkunst brillanter Darstellung, doch
für mich persönlich ist eher die erst später häufiger zu sehen
seiende Nicole die wichtigste und zentralere Figur des Films, der
eine so tragende Rolle spielende Engel von einer Hauptprotagonistin,
an sie denke ich im Grunde genommen den gesamten Film über. Die
Affäre zwischen Mrs. Walker und Billy beginnt erst einmal in recht
leichter, da sichtlich unbeschwerter Zweisamkeit eines das Schicksal
teilenden Kurzzeitpaares, später hingegen wird auch diese Bindung
kompliziertere, neue Konturen annehmen.
Nicole öffnet im wahrsten Sinne des
Wortes das „fabelhafte“ Buch, passt auf Billy's Kinder auf, gibt
Acht und erkennt, wie der Sohn eine interessante Frage stellt, all
dieses in einem bildschönen Winterzimmer mit Schrägen, wir blicken
auf direktem Wege in die Bergwelt schneeweißen Zaubers.
Nicole/Polley probiert praktisch für tot geglaubte Kleidungsstücke
der dahingeschlichenen Herzdame seitens Billy an, weder sie noch er
sind sich gänzlich bewusst, was das alles bedeuten mag. Der Vater
von Nicole nun ins Reich der Sünde eindringend, sie dorthin
geleitend, wo sie in ihrer Rolle als Tochter nicht stehen sollte.
Schauspielerisch brillanter Austausch der Blicke, Kontakt nur
physisch spürbar, nicht jedoch in den Innenwelten unserer Herzen. Im
Heue die Kerzen der die Psyche vernichtenden Schauerromantik in ihrer
seelenlosesten, unreinsten, unfreiwilligsten aller Formen.
Unmissverständliche Andeutungen und doch im Buche sowie im Filme
kaum als solche wahrgenommen werdend, wohl auch weil direkt in dem
Anschlusse wieder die Landschaftspracht zu bewundern ist, wir wollen
es nicht wahrhaben und schweigen es in der Stille zu Tode, das
Geschehen als der direkte Kontrast zu den atemberaubenden Orten.
Bildgewaltige Fernaufnahmen im Weitwinkel, jede Kameraeinstellung ein
Werk Gottes und all dies mit vergleichsweise geringem Budget. Wenn
ich mich recht entsinne, schrieb ich einstmals sinngemäß, der Film
sei in bestimmten Hinsichten weniger zeitversetzt, eher geradliniger
als Exotica, das Gegenteil ist im Grunde genommen der Fall, doch die
beiden Meisterwerke nehmen sich nicht sonderlich viel, sondern
ergänzen sich vielmehr, der Zeitwechsel ist ALLGEGENWÄRTIG!
Abermals die ausdrucksstarke Zoe als Kind in die Kamera blickend,
verwundert und fasziniert zugleich, worin läge auch der Unterschied?
Der Gesichtsausdruck so nachdenklich, was genau ist uns das Kind
mitzuteilen gewillt? Greenwood's Figur mag etwas hart und grob
erscheinen, aber ehrlich stünde sie stets zu ihren Gefühlen und
Ansichten, ...Affäre mit Mrs. Walker unter den ihrerseits
vorhandenen Ängsten leidend, Nicole's weitergetragenes Erbe von
Billy's verstorbener Gemahlin, habe in ihren Augen gewissermaßen
Einfluss auf den Unfall gehabt, verzweifelt suchen alle Beteiligten
nach einer Erklärung für diese Tragödie. Die (Stief?-)Mutter
begrüßt die überlebt habende Nicole fast unverschämt-zynisch mit
den merkwürdig betonten Worten: „You are so lucky!“, genau
genommen mag man sich eher fragen, ob ihr Überlebthaben überhaupt
ein Segen ist, allenfalls hilft es ihr dabei, von Sam nicht mehr
allzu sehr begehrt zu werden und falls doch, so zwingt sich dieser
nur zur Zurückhaltung, da er nun auf sie angewiesen ist, ihr
Zeugenwort als finales Hilfsurteil. „Courage“ wird sie nicht nur
benötigen, sondern auch gesanglich wiedergeben, die Gesangsthematik
passt perfekt zur Grundbotschaft des hiermit rezensierten Films. Ihr
neues Prinzessinnen-Zimmer macht, so hofft es wohl aus Sam, aus ihr
wieder eine Art Kind, doch allzu leicht lässt sich eine Nicole nicht
beeinflussen, denn die Erinnerung sie lebt. Sam kann sich seiner
nicht mehr allzu sicher sein, denn anwaltlich betrachtet, benötigt
er auf juristischer Ebene des Töchterleins Hilfsbereitschaft zur
Aussage, bemerkenswert auch wie Stephens Sam ruhigstellt, erst hier
beginnt Nicole, den Anwalt überhaupt ansatzweise zu akzeptieren, es
muss ihr imponiert haben, zu sehen wie Vater der Mund verboten wird.
Nicole erweist sich in zahllosen Zusammenhängen als der Weisheit ihr
Träger, schauspielerisch fast so brillant portraitiert, wie Vanessa
Paradis in „Elisa“, mindestens gleichwertig mit Jordana Brewster
in „Invisible Circus“ und M. Barton in „Lost and Delirious“.
Sam und die Dame an seiner Seite, tauschen im Zuge des Gespräches
mit dem Anwalt, der nur sehr unklar andeutet, wann das Geld denn
käme..., etwas hinterhältig die Blicke aus, ginge es um Nicole oder
doch eher um eine des Geldes wegen entstehende Klage? Alsbald eine so
temperamentvolle nächtliche Begegnung zwischen Stephens und Billy,
selbige muss man höchstpersönlich erlebt haben, auch äußerst
kraftvoll synchronisiert von Oliver Stritzel. Wie Sie sicher
bemerken, sehe ich mich genötigt recht häufig zwischen den Zeiten
und Charakteren hin- und her zu wechseln, das resultiert wohl aus
meinem Bestreben, mich dem Filme ein Stück weit anzupassen, um
dessen stimmungsvolle Atmosphäre zu betonen und zu unterstreichen,
diese lebt nämlich in vielerlei Hinsicht von genau diesen
Zeitverschiebungen im Inneren der Geschichte. Dem Zorne eines Billy
kann Stephens keine Stimme im Gerichtssaale geben, in ihm keinen
zusätzlichen (Zwangs-)Zeugen gewinnen, auch nicht mithilfe seiner
eigenen Tochter, deren erneuten und nicht letzten Anruf er doch
tatsächlich dazu missbraucht, seinem Plädoyer mehr theatralische
Kraft zu verleihen, um doch noch, es gelänge aber nicht, zu Billy
durchzudringen. Das fast schon von Natur aus überfüllte Fass, droht
endgültig überzulaufen, als die Tochter trauerbedingt und
vermutlich der Wahrheit entsprechend hinzufügt, sie sei beim Arzte
gewesen und man habe die Todesbotschaft bezüglich Aids, HIV-positiv,
verkündet. Ob er ihr Glauben schenkt? Wenn nicht, so handelt es sich
hierbei um einen weiteren massiven Schlag, welchem die Tochter
hilflos ausgeliefert ist, ferner auch darunter leidend, dass er
oftmals glaubt, ihr gewissermaßen voraus zu sein. „Welcome to hard
times, daddy“, heißt es nun jedenfalls – und abermals wiederholt
sich das Bild der Baby-Zoe, auch hier erweist sich der Film in seinem
stets zum richtigen Zeitpunkt eingreifenden Feingefühl fast als zu
perfekt und makellos, geradezu erschreckend, wie sich Egoyan bei
diesem seinem gefühlsintensivsten Film keinerlei Fehler gestattet,
nicht einen einzigen scheint er sich zu erlauben.
Vor Dolores wird Stephens nun direkter,
läuft auf sie zu und sie wird infolgedessen von ihrem ebenfalls
einer Minderheit angehörenden, von Stephens zuvor offenbar nicht im
ausreichenden Maße ernstgenommenen Manne beschützt, nur sie ist in
der Lage, ihm ganz und gar folgen zu können, das Netz von Vertrauen
und Verständnis wurde Jahrzehnte über gewoben. Die Räumlichkeit
der Zeugenaussagen so groß, so lang, so leer. Ein Saal einstmals
unbeschwert gewesener Tage, Mitchell von Dolores' Aussage sichtlich
unberührt, oder lässt er lediglich keine Emotionen zu? Unklar nun,
wann Nicole die für sie und die Gemeinde so wichtige und bedeutsame
Entscheidung drastischer Art trifft, ob während des Zuhörens, wie
es Spannungen zwischen Billy und Sam zu beobachten gäbe, oder doch
erst, als sie dem Vater kurz darauf, in der Nacht vor dem Tage der
Tage, eine Entschuldigungschance einräumt? Sam sagt in dreistem
Mangel an Wissen, er wüsste genau, wie Billy sich fühle, „Wie?!“,
entgegnet dieser dem klar im Worte, „ziemlich deprimierend und so“,
antwortet Sam recht halbherzig und ohne jeglichen psychologischen
Verstand. „Du hattest nichts mit dem Unfall zu tun“, sagt die
Stiefmutter dem seine beiden Kinder verloren habenden und hinter dem
Bus her gefahrenen Manne doch tatsächlich, sie ist mir im gesamten
Film vermutlich mit am unangenehmsten. Billy ist noch so gütig und
hilfsbereit, nach alledem seinen finanziellen Anteil anzubieten,
erinnert an die Gemeinschaft die füreinander da war, doch Sam
erweist sich abermals als undankbar. Nicole's Spiel in diesen und
weiteren späteren Szenen ist von unsagbarer Intensität, die
ihresgleichen sucht. Zumeist dann noch aussagekräftiger, wenn sie
nur des traurigen Blickes stille Worte verliert, ohne aber konkret
ein solches in den Mund zu nehmen. Der finale Spruch von Sam Billy
gegenüber, ist endgültig zu viel des Schlechten, ich wäre an
Billy's Stelle unter Umständen wohl noch einmal zu Sam
zurückgekehrt..., tut mir leid...
„The stage … nothing but candles“
- Sam versteht jede auch noch so kryptisch anmutend formulierte
Anspielung seiner Tochter, jedes Wort so unmissverständlich klar,
doch er nimmt die Chance nicht aktiv wahr. „Warum ich log, wusst'
er allein“, hiermit könnte sowohl ihr Vater, als auch Gott gemeint
sein. Die Tränen deuten sich nur an, langsam fließen sie hinunter,
vergossen gar, jedoch ohne inneres Eis der angeschlagenen Seele
schmelzen zu lassen, einen ähnlich winterlichen Tiefgang erlebte ich
bislang nur in „D2“ von Kenji Eno, der geheimnisvolle Score
erschafft ein übriges und bedroht etwas in uns. Sarah Polley schenkt
uns hier nun die vollständige, vollendete Kunst ihres göttlichen
Schauspiels, das Werk nahezu am Ende angelangt und die Heilung doch
erst an ihrem hoffnungslosen Anfangspunkte. „...frozen as a winter
moon“, die Worte bleiben haften.
Dolores gegenüber mag das Ende recht
grenzwertig erscheinen, doch ungerecht hin oder her, war es in dieser
schwierigen, Konsequenzen habenden Lage nur noch eine Frage des
Abwägens zwischen dem Für und dem von Dolores einmal abgesehen kaum
vorhandenen Wider – dennoch kontrovers....
...und Vater musste sich nun die Frage
stellen, WESHALB die junge Lotusblüte log, die Antwort sie dürfte
ihm geläufig sein, ihre baldige Frage bezüglich des Rechners von
Stephens, stellt dabei eine der seltenen Pointen dar. Die Fallakten
nunmehr geschlossen, auch der Flug im Herbste des J. 1997, scheint
sein nur scheinbar gesundes Ende genommen zu haben, denn alles ist
passé, doch die Narbe bleibt erhalten. Die nachträgliche Begegnung
mit Dolores stellt einen letzten Kontakt zwischen zwei Welten her,
die Szene wechselt in Bälde wieder zu Sarah, wie sie das Märchenbuch
nun endgültig schließt, um dem Schicksal des metaphorischen
Weiterlesens entronnen zu sein, fortan von Erinnerung zu leben, denn
die Erzählung nimmt an ebendiesem Punkt ihr wohlverdientes Ende.